Einführung eines Redaktionssystems: Der Reifegrad einer Redaktion als Kriterium
Redaktionssystemen kommt bei der Erstellung von Technischer Dokumentation eine immer größere Bedeutung zu. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe robuster und bezahlbarer Systeme sowie probate Vorgehensmodelle für die Einführung. Aber dennoch ist die Umstellung auf die neue Technik häufig noch mit Vorbehalten verbunden: Welchen Einfluss hat die Einführung eines Redaktionssystems auf die bisherige Arbeitsweise der Technischen Redakteure? Ist das Dokumentationsteam überhaupt „reif“ für eine derart grundlegende Innovation? Die Umstellung auf ein Redaktionssystem kann auch für Redaktionen mit einem vergleichsweise geringen Reifegrad durchaus sinnvoll, ja sogar eine effektive Maßnahme darstellen, den Reifegrad zu erhöhen.
Redaktionssystem: Chance und Herausforderung
Die Möglichkeit, Versionen und Varianten eines Dokuments einfach und übersichtlich zu verwalten, die Arbeits- und Zeitersparnis durch die Wiederverwendung modularisierter Module und nicht zuletzt die damit verbundene beträchtliche Kostenreduzierung: Der Einsatz eines Redaktionssystems verspricht vielfältige Erleichterungen für Technische Redakteure. Aber kann wirklich jede Technische Redaktion von diesen Vorteilen profitieren? Schließlich erfordert die Arbeit mit einem Redaktionssystem eine hochgradig strukturierte Arbeitsweise, die für viele Teams eine enorme Umstellung bedeuten kann. Wer bislang weitgehend unstrukturiert gearbeitet hat, ohne klar definierte Prozesse und verbindliche Standards, sieht sich also mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Ist unter solchen Umständen der Umstieg auf ein Redaktionssystem überhaupt ratsam?
Mit ihrem Information Process Maturity Model hat JoAnn Hackos ein Evaluierungssystem entwickelt, mit dessen Hilfe sich der Reifegrad einer Technischen Redaktion abschätzen und beschreiben lässt. Die Bewertung erfolgt anhand von Kategorien wie Organisationsstruktur, Dokumentengestaltung und Qualitätssicherung.
Mit diesen Kriterien lassen sich Technische Redaktionen nach fünf verschiedenen Reifegraden unterteilen:
- Level 1: Es gibt keine einheitlichen Prozesse und Standards. Jeder einzelne Redakteur entwickelt nach Gutdünken individuelle Standards. Die Qualität der Dokumentation ist damit in hohem Maße abhängig von der Kompetenz der einzelnen Redakteure, qualitätssichernde Maßnahmen finden nicht statt.
- Level 2: Es gibt Ansätze zur Vereinheitlichung von Prozessen und Standards ebenso wie zur Qualitätssicherung. Allerdings führen Zeitdruck und sich verändernde Anforderungen häufig dazu, dass diese Ansätze wieder aufgegeben werden.
- Level 3: Einheitliche Prozesse und Standards sind eingeführt und akzeptiert. Die Beteiligten erkennen die Notwendigkeit von fundierter Projektplanung und beständiger Qualitätssicherung an.
- Level 4: Alle Beteiligten zeigen großen, konsequenten Einsatz für die Einhaltung einheitlicher Prozesse und Standards. Es gibt durchdachte Verfahren für die Einschätzung und Erfüllung von Kundenbedürfnissen.
- Level 5: Über den Reifegrad von Level 4 hinaus gibt es ein Bestreben nach kontinuierlichen Innovationen. Prozesse und Standards werden beständig überprüft und auf Verbesserungsmöglichkeiten hin untersucht.
Der aktuelle Reifegrad einer Redaktion ist das wesentliche Kriterium, ob die Einführung eines Redaktionssystems erfolgversprechend erscheint – je höher der Reifegrad, desto größer die Erfolgsaussichten. Die Redaktion sollte bereits einen Reifegrad erreicht haben, der mindestens Level 3 in der oben aufgeführten Liste entspricht.
Der Grund liegt in den Anforderungen, die die Arbeit mit einem Redaktionssystem mit sich bringt: Erst Redaktionen des Reifegrads 3 weisen ein hinreichendes Maß an Standardisierung auf, um den Ansprüchen an die Arbeit mit einem Redaktionssystem gerecht zu werden. Demnach erscheint es für Redaktionen mit einem geringeren Reifegrad als 3 wenig aussichtsreich, sich Gedanken über die Anschaffung eines Redaktionssystems zu machen.
Doch lässt sich diese Einschränkung wirklich so aufrecht erhalten? Gibt es nicht auch für weniger „reife“ Redaktionen schlüssige Gründe, auf ein Redaktionssystem umzusteigen?
Wie sich ein Redaktionssystem positiv auf den Reifegrad auswirken und die Professionalität in der Redaktion steigern kann
Bisher ging es ausschließlich darum, wie der vorhandene Reifegrad die Erfolgsaussichten einer Systemeinführung bestimmt. Es lohnt sich aber auch, die umgekehrte Kausalität ins Auge zu fassen: die Einführung eines Redaktionssystems als ein Mittel, den Reifegrad zu erhöhen oder dabei zumindest hilfreich zu sein. Sicherlich ist es einleuchtend, dass der Umgang mit einem Redaktionssystem ein gewisses Maß an Standardisierung der Arbeitsabläufe voraussetzt. Und dass die Einführung umso reibungsloser verläuft, je professioneller die Redaktion aufgestellt ist. Aber umgekehrt gilt auch: Ein Redaktionssystem kann diejenigen, die mit ihm zu tun haben, bei der Implementierung von Standards unterstützen.
Umstieg auf ein Redaktionssystem ist eine große Umstellung
Die Lösung kann gewiss nicht so aussehen, dass dem Redaktionsteam eine ausgearbeitete Systemlösung einfach vorgesetzt wird, verbunden mit der Aufforderung, sich den Anforderungen des Systems ad hoc anzupassen. Ein solches Vorgehen überfordert zweifellos auch die motiviertesten Teammitglieder. Jedoch kann eine kompetente Anleitung diesen Übergang nicht nur abfedern, sondern auch eine effektive Möglichkeit darstellen, den erforderlichen Reifegrad zu vermitteln. So sollte die Schulung zum Beispiel das Bewusstsein dafür schärfen, dass sich modularisierte Inhalte oftmals praktischer wiederverwenden lassen, anstatt redundante Inhalte immer wieder neu zu erstellen. Auf diese Weise werden die Optionen des Redaktionssystems zugleich zu Standards des Arbeitens.
Folgende Lernziele stehen im Mittelpunkt:
- Einsicht in die zentrale Bedeutung einer standardisierten Arbeitsweise
- Entwicklung allgemein verbindlicher Standards für die Dokumentenerstellung
Die Schulungsmaßnahmen, die hierzu erforderlich sind, begleiten die Implementierung des Redaktionssystems und vermitteln den Redakteuren sukzessive die benötigten Kompetenzen. Dabei wird das Team die Erfahrung machen, dass die Arbeit mit einem Redaktionssystem zeitsparend und damit wirtschaftlicher ist, etwa bei der Erstellung von formatierten Ausgabedokumenten auf Grundlage einer DTD im Vergleich zur aufwendigen manuellen Formatierung. Darin liegt auch ein nicht zu unterschätzender psychologischer Aspekt, um die Beteiligten zu motivieren: Für die Mühen des Einstiegs entschädigen die beträchtlichen Erleichterungen durch das Redaktionssystem.
Aus didaktischen Gründen kann es gerade in einem solchen Fall sinnvoll sein, der Einführungsphase eine Erstimplementierung vorangehen zu lassen, bei der das Redaktionssystem zunächst in einem begrenzten Anwenderfeld eingeführt und getestet wird. Auf diese Weise lassen sich die unvermeidlichen Schwierigkeiten bei der Umstellung besser auffangen.
Auch beim verantwortlichen Management ist möglicherweise Überzeugungsarbeit zu leisten, damit es die nötige Geduld aufbringt, den Prozess über den gesamten Zeitraum der Einführungsphase zu begleiten. Je niedriger das Ausgangsniveau, desto länger wird der Einführungsprozess vermutlich dauern – hier ist ein gewisses Maß an Geduld unerlässlich, damit das Projekt nicht scheitert.
Erst nach erfolgreichem Abschluss der Einführung beginnt die Zeitspanne, bis der erwartete Return on Investment erfolgt
Auch wenn nach der Einführung die Produktivität zunächst sinkt, da die Modularisierung das Erstellen von Dokumenten aufwendiger macht, so wird die Produktivität durch die Wiederverwendung der modularisierten Objekte später umso stärker ansteigen, und auch die Übersetzungskosten werden sinken.
Die Implementierung des Redaktionssystems und der damit ohnehin verbundene Schulungsaufwand stellen eine gute Gelegenheit dar, auf diesem Wege zugleich die Grundlagen professionellen und damit standardisierten Arbeitens einzuüben. Der Reifegrad ist also nicht allein ein Kriterium für oder gegen die Entscheidung.